- Wie kamen Sie auf die Idee «Witty Works» zu gründen?
Meine Co-Gründer*innen und ich fanden es merkwürdig, dass uns immer wieder Kollegen von Tech- und Digital-Unternehmen sagten, dass sie keine Frauen finden. Wir kennen viele Frauen in diesen Berufen. Und wir hören von vielen, dass sie sehr viele Bewerbungen schreiben müssen, um überhaupt zu einem Interview eingeladen zu werden. Wir begannen also zu recherchieren und trafen auf die spannenden Arbeiten von Iris Bohnet, einer Verhaltensökonomin. In ihrem Buch «What Works» bringt sie Studien zusammen, die erklären, wieso Frauen – obwohl wir die best ausgebildete Generation von Frauen in der Weltgeschichte haben – es nur beschwerlich in gewisse Branchen reinschaffen oder nicht in die Führungsstufen befördert werden. Der Grund ist: unbewusste Voreingenommenheit – oder auf Englisch: unconscious bias.
- Was genau muss man sich unter diesem «unbewussten Bias» vorstellen, vor allem im Recruiting-Prozess?
Unconscious bias beschreibt eine Vielzahl an kognitiven Verzerrungen. Diese beeinflussen unbewusst – wir nehmen es also mit dem Grosshirn gar nicht wahr – wie und welche Entscheidungen wir Menschen treffen. Solche Biases sind teils schon sehr alt und wurden zu Urmensche Zeiten der in unserem Hirn verankert. Andere sind von neuerer Natur. Sie helfen uns das tägliche Leben zu bewältigen und zu überleben. Ein Beispiel: wenn wir an einer Strasse stehen und ein lautes Autogeräusch wahrnehmen, vermeiden wir es, auf die Strasse zu treten. Die Interpretation der Lautstärke des Autos haben wir von ganz klein angelernt. Würden wir unser Grosshirn arbeiten lassen, wäre es viel zu langsam und wir wären wahrscheinlich unter dem Auto.
In der Rekrutierung bringen solche Biases allerdings in Bezug auf weibliche Talente negative Konsequenzen mit sich. Die Menschheit hat sich im Verlaufe der Zeit nämlich auch verinnerlicht – unbewusst und etwas einfach dargestellt –, dass die zwei Konzepte «Karriere» und «Frau» nicht zwingend zusammenpassen. Jede Entscheidung, die wir in der Rekrutierung treffen und die zwei Konzepte vereinen sollten, gehen für uns kognitiv nicht auf – unser Hirn mag sie unbewusst nicht. Das bedeutet also, dass weibliche Talente während eines Bewerbungsprozesses neben den allgemeinen Herausforderungen auch solche unsichtbare Hürden überwinden müssen.
- Wie helfen Sie Unternehmen dabei, diesen Bias zu vermeiden und ihre Teams nachhaltig diverser zu gestalten?
Wichtig ist meist zuerst eine Sensibilisierung zum Thema. Die meisten Menschen sind sich nicht bewusst, dass unsere Entscheidungen durch unbewusste Biases gesteuert werden. Wir nehmen nämlich immer an, dass wir rational sind. Gemäss den Studien der Verhaltensökonomie entscheiden wir aber nur zu 10 Prozent rational; die restlichen 90 Prozent sind reflexartig und darum nicht an die Vernunft gebunden. Das muss zuerst verstanden werden. Biases abtrainieren kann man allerdings nicht. Das zu versuchen kann sich sogar kontraproduktiv auswirken, da das Hirn von verinnerlichten Biases nicht einfach abweichen kann. Aber nur schon das Bewusstsein führt oft zu einer gewissen Verhaltensänderung, weil man die «andere Seite» besser versteht und weil man nochmals über die eigene erste Reaktion nachdenkt. Ein Verständnis für unbewusste Biases hilft ausserdem auch dabei, sachlich darüber diskutieren zu können.
Nach der Sensibilisierung besprechen wir mit den Unternehmen, wo sie am meisten Probleme haben: ist es bei der Attraktion von weiblichen Talenten, bei der Rekrutierung, bei der Förderung oder bei der Beförderung? Wir schauen uns dann gemeinsam die Prozesse und die Entscheidungen an, die in diesen Bereichen getroffen werden und entwickeln gemeinsam massgeschneiderte Massnahmen. Das Ziel dabei ist immer: Entscheidungsprozesse so zu gestalten, dass die Biases umgangen werden können.
- Haben Sie Beispiele?
Wenn es ein Unternehmen bezüglich ihrer Attraktion als schwierig empfindet, genug Bewerbungen von weiblichen Talenten zu erhalten, dann nehmen wir die Sprache und die Bildwelt der Firma genauer unter die Lupe. Aus Studien, die in den USA, Deutschland und China gemacht wurden, wissen wir nämlich, dass Frauen die Sprache in Stellenanzeigen und auf Karriereseiten wie auch die benutzten Bildwelten anders interpretieren als Männer. Die meisten Unternehmen beginnen dann, ihre Stellenanzeigen mit unserem Software Tool diversifier.witty.works [Link: https://diversifier.witty.works/] zu schreiben, um sicherzustellen, dass die Wortwahl auch die Frauen wirklich anspricht.
Beim Thema Beförderung analysieren wir zusammen, wie Beförderungsentscheide gefällt werden und identifizieren, wo die Entscheider*innen in Voreingenommenheiten reinfallen. Dann entwickeln wir zusammen Entscheidungsprozesse, die diese Biases umgehen oder abschwächen können. Es ist beispielsweise empfehlenswert, dass mehrere Stimmen bei einer Beförderung mitentscheiden. Dies erhöht die Objektivität der Entscheidung. Es sollten klare Kriterien festgesetzt sein, weshalb Mitarbeitende befördert werden. Die Entscheidungsgremien sollten zudem Bewertungen für oder gegen eine Beförderung nicht in der Diskussion treffen, etc.
- Worauf sollten Unternehmen besonders achten, um weibliche Talente nicht nur zu finden, sondern auch halten zu können?
Zuerst spielen da sicher die Rahmenbedingungen eine Rolle. Das Einführen von regulatorischen Bedingungen, die der Diversität von Menschen – und das nicht nur auf Frauen begrenzt – ein Arbeitsleben ermöglicht, könnte ein erster Schritt sein. Zum Beispiel dass Überzeit kompensiert werden kann, dass Teilzeitarbeit die Normalität für alle ist und nicht die Ausnahme für Mütter, dass Sabbaticals/unbezahlte Urlaube nicht abhängig vom Dienstalter ist oder dass Vaterzeit nach der Geburt des Kindes obligatorisch ist.
Aber es geht vor allem auch darum, eine Kultur zu schaffen, die psychologische Sicherheit garantiert. Es soll nicht um einen Wettbewerb zwischen den Mitarbeitenden gehen, sondern um die gemeinsame Lösung von komplexen Problemen. Darin verbirgt sich auch die Überzeugung in jedem einzelnen Mitarbeitenden und in der Geschäftsleitung, dass es das Potenzial jedes*r Einzelnen braucht, um die Ziele zu erreichen. Leider arbeiten aber beispielsweise viele Unternehmen noch immer mit individuellen Bonussystemen – das fördert eher den Wettbewerb als die Zusammenarbeit.
- Was können wir tun, um unbewusste Voreingenommenheiten zu überwinden?
Auf einem individuellen Niveau geht das leider nicht. Eben weil die Voreingenommenheiten unbewusst sind. Das bedeutet ja, dass wir es gar nicht erst merken, dass wir unfair entscheiden oder unfair handeln. Unbewusste Voreingenommenheiten können nur über sehr lange Zeit überwunden werden – und dazu braucht es die ganze Gesellschaft. Und viele Biases sollten wir nicht überwinden wollen, da sie unser Überleben garantieren.
In Bezug auf die Rekrutierung oder Beförderung von weiblichen Talenten können wir aber schon was tun – so wie oben erklärt. Dazu gehören objektivere Entscheidungsprozesse, abgestützt auf mehrere Personen; einen bewussteren Umgang mit Rekrutierungs- und Beförderungskriterien sowie die Nutzung von inklusiver Sprache. Wir werden damit die unbewussten Voreingenommenheiten jedes*r Einzelnen nicht überwinden können, aber wir können ihre Wirkung in der Organisation abschwächen oder teilweise umgehen.
- Welche Tipps haben Sie für Studienabgängerinnen, die sich bei Tech-& Digital-Unternehmen bewerben wollen?
Junge Frauen sollten sich rechtzeitig mit dem Thema „unconsious bias“ auseinandersetzen, da sie von deren Wirkung betroffen sein werden. Es ist wichtig, dass sie darauf sensibilisiert sind, um Rekrutierungsprozesse bewusster wahrzunehmen und ihre Karriere erfolgreicher zu gestalten. Dabei ist jedoch auch wichtig zu verstehen, dass sie diese Biases nicht aus der Welt schaffen können. Aber durch das Wissen darüber, können sie ihr Verhalten steuern.
Ganz konkret bedeutet das für euch Studienabgängerinnen, die folgenden Verhaltensweisen zu nutzen:
- Lasst euch bei eurem Entscheid, ob ihr euch bewerben wollt oder nicht, nicht von der Sprache und der Bildwelt auf Karriereseiten oder in Stellenanzeigen beeinflussen. Schickt eure Bewerbung einfach ab, ohne zu lange zu überlegen, ob ihr dafür gemacht seid oder nicht. Die meisten Unternehmen sind auf der Suche nach jungen, weiblichen Talenten. Und ihr seid dafür gemacht.
- Fragt während des Bewerbungsprozesses nach, aufgrund welcher Kriterien der Lohn bestimmt wird und wie der Beförderungsprozess funktioniert. Aufgrund der Antworten merkt ihr ziemlich gut, ob die Firma faire Prozesse hat.
- Fragt eure männlichen Mitstudenten (oder später Kollegen) ganz transparent, was sie verdienen, damit ihr euch ein Bild von den Löhnen machen könnt. Wenn ihr in einem Bewerbungsgespräch seid, verlangt das Gleiche und zitiert dabei die Aussage eures Mitstudenten. Das kann helfen, die Objektivität in der Lohneinschätzung ins Gespräch reinzubringen.
- Wenn ihr seht, dass es zu wenige Frauen im Unternehmen hat, könntet ihr euch dafür einsetzten, dass es ein strategisches Anliegen wird, indem ihr euch intern mit anderen Frauen vernetzt und das Thema vorantreibt. Es ist für euch selbst wichtig, dass ihr weibliche Vorbilder im Betrieb habt, um weiterzukommen und dass ihr auch selbst Vorbilder sein könnt für andere.
Vielen Dank für das Gespräch!
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Nadia Fischer brennt für Innovation, die sie vor allem in der Technik-Branche ausleben kann: Nach ihrem Studium «Internationale Beziehungen» an der IUHEI in Genf, arbeitete sie zunächst als Marketing-Leiterin in einem Startup in San Francisco, dann als Scrum Product Ownerin und Business Developerin bei der in der Schweiz ansässigen Webagentur Liip. Aufgrund ihrer Rolle als Head of Product Owners bei PwC spezialisierte sie sich auf agiles Coaching für digitale Unternehmenstransformationen und wurde Gründerin von «Witty Works», wo sie gegenwärtig die Position Chief Product Officer innehat: www.witty.works